«Single Issue Voting» – ein für die USA typisches Phänomen: gewählt wird oft nach einem einzigen Kriterium.
Joe Biden hat die Wahl gewonnen, und für etwa die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung (und wohl den Grossteil der restlichen Welt) dominieren Gefühle wie Freude, Erleichterung, Hoffnung, und ein wieder hergestellter Glaube in die USA und deRen Institutionen. Die Demokratie hat den diktatorischen Anmassungen des Präsidenten standgehalten. Und trotzdem: Über 70 Millionen Stimmberechtigte haben ihr Votum für Trump abgegeben, fast 10 Millionen mehr als 2016. Damals war eine der meistgestellten Fragen: "Wie kann das sein?", und heute muss man sie ergänzen zu: "Wie kann das trotz allem immer noch sein?"
Offenbar kann es. Eine der möglichen Ursachen liegt vielleicht in einer Dominanz des linearen Denkens, das in der amerikanischen Gesellschaft tief verankert ist. Sachverhalte sind gut oder schlecht, schwarz oder weiß, null oder eins, richtig oder falsch, good or evil. Anforderungen sind erfüllt oder nicht erfüllt. Eine Antwort ist ja oder nein. Man ist Demokrat oder Republikaner und schaut deshalb CNN oder Fox News. Verteidigt wird entweder "Pro Choice" oder "Pro Life". Andere sind entweder mit uns oder gegen uns (wie sagte damals Bush jr.: "… you’re either with us, or against us"). Demokraten sind "Socialists" und Republikaner sind für freie, deregulierte Märkte. Eindeutige Farben, aber auf keinen Fall irgendwelche Graubereiche, über deren Schattierungen man diskutieren kann.
Lineares Denken zeigt sich auch im beruflichen Alltag, wo viele Prozesse auf geradlinigen, einfach verständlichen Vorgehensweisen und Denkmustern basieren. Anforderungen sind simpel formuliert und überprüfbar, sie sind entweder erfüllt oder nicht erfüllt. Zusammenhänge sind klar, messbar, reproduzierbar. Abläufe sind standardisiert und werden genauso durchgespielt, wie sie geplant sind. Checklisten sorgen dafür, dass alles Punkt für Punkt durchgegangen, organisiert, geübt und dann abgehakt werden kann: "Check all the boxes!"
Schulprüfungen mit «Multiple Choice»
Während der gesamten Schulzeit basieren die Prüfungen fast immer auf Multiple Choice Tests. Als Vorbereitung dazu arbeitet man ganze Sets von früheren Prüfungen durch, denn Fragen und Antworten wiederholen sich irgendwann. Das Beispiel von chinesischen Studenten, die alle Fragen im Multiple Choice Englisch Test richtig beantworteten, aber dann die Sprache gar nicht beherrschten, ist legendär. Mit linearem Auswendiglernen kann man vieles erreichen.
Klare Regeln, definierte Prozesse: Sie bringen Struktur und Hierarchien in den Alltag, aber sie verhindern konstruktive Debatten, kreatives Denken, innovative Lösungen. Und sie funktionieren nicht, wenn man komplexe, nicht-lineare oder chaotische Probleme angehen und lösen möchte, wenn eben vernetztes Denken angesagt wäre. Zudem kreieren sie einen fruchtbaren Nährboden für alle Arten von Manipulationen, Simplifizierungen, Verschwörungstheorien, oder "Fake News" und befeuern damit das eindimensionale Wählerverhalten der sogenannten "Single Issue Voters".
Diese Single Issue Voters spielen bei amerikanischen Wahlen eine wichtige Rolle. Damit bezeichnet man Wähler, die ihre Stimme nur aufgrund eines einzigen Kriteriums abgeben. Keine Differenzierung, keine philosophischen Überlegungen, keine kritischen Analysen und Verbindungen, sondern ganz einfach eine hundertprozentige Unterstützung für ein ganz bestimmtes einzelnes Anliegen. Im naheliegendsten Falle sind dies diejenigen Wähler, die blind für "ihre Partei" stimmen, seien es die Demokraten oder die Republikaner, völlig losgelöst von den jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten.
Schwierige Themen, einfache Lösungen …
Ein typisches "single issue"-Thema ist seit Jahrzehnten die Abtreibung. Obwohl der Supreme Court im Jahre 1973 Abtreibungen de facto legalisierte, ist das Thema auch im 21. Jahrhundert extrem kontrovers geblieben. Das geht so weit, dass man es in Gesprächen mit Nachbarn oder auf Partys nicht thematisieren sollte, zu groß ist die Gefahr, dass man dabei in den Fettnapf tritt (oder schlimmer). Die Diskussion ist in weiten Teilen der Gesellschaft tabu, sogar Moderatoren von Talk Shows haben sie verbannt.
Steuersenkungen sind ein weiteres heißes Thema. Die Republikanische Partei hat sich seit den Reagan-Jahren auf die Fahne geschrieben, dass Steuern grundsätzlich schlecht sind und man diese so weit als möglich senken oder eliminieren muss. Auf der demokratischen Seite weiß man, dass dabei durch die Mindereinnahmen soziale Errungenschaften abgebaut und wichtige (und extrem nötige!) Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Healthcare unmöglich werden. Trump ist ein kompromissloser Verfechter von "weniger Steuern", während demokratische Kandidaten die Gegenseite vertreten (Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez am vehementesten).
Die amerikanische Position gegenüber Israel (und damit eingeschlossen der Nahost-Konflikt) ist ebenfalls ein zentraler "single issue"-Faktor. Die jüdischen Wähler spielen in den USA eine wichtige Rolle, und historisch haben sie in der überwiegenden Mehrheit die Demokraten unterstützt. Viele haben jedoch Präsident Obama übelgenommen, dass er während seiner Amtszeit versucht hatte, den israelisch-palästinischen Konflikt aus einer differenzierteren (nicht-linearen, eben) Optik anzugehen.
Manchmal ist die Single Issue" auch simpler und geprägt vom Leitsatz: "What's in for me?". In einem hart umkämpften Wahlkampf für einen Senatssitz im landwirtschaftlich geprägten Staat North Dakota meinte Anfang 2018 ein Insider lakonisch: Wenn der Preis für Sojabohnen bei mindestens 6 Dollar liegt, wählen wir Farmer die Amtsinhaberin. Sonst den Herausforderer.
Trump hat nicht nur die "Single Issue Voters" in einer noch nie dagewesenen Art und Weise abgeholt, sondern auch seine Partei soweit gebracht, dass sie seinen simplen "Deal" akzeptierten: Er gab den konservativen Republikanern einiges von dem, was sie unbedingt wollten – Steuersenkungen, Pro-Israel-Strategie, Unterstützung der "Pro Life"-Bewegung (ausgerechnet Trump!), mehr Geld für die Verteidigung auf Kosten anderer Bereiche, und diese schauten dafür bei seinen Eskapaden und Charakterschwächen weg. Wohl kaum hätten sie gedacht, dass er einige Jahre später die ganze Partei vollständig unter seine Kontrolle bringen würde. Wer politisch nicht spurte, dem wurde offen mit Abwahl gedroht. Die Republikaner verloren sehr bald jegliches Rückgrat und folgten ihm blindlings.
Abgewählt – aber auch für immer weg?
Nun ist Trump selbst abgewählt, und so wie es aussieht, könnte der Machtwechsel im Januar sogar einigermassen geordnet über die Bühne gehen. Aber: Trumps Vermächtnis ist weitreichend. Erstens hat er eine bereits gespaltene Gesellschaft nochmals um einiges weiter auseinanderdividiert. Die Kluften sind gross, und dies entlang vieler einzelner Themen. Zweitens hat er gesellschaftliche lineare Denkmuster in einer unverschämten Art ausgenützt und manipuliert. Wer ein einziges positives Element in Trump sieht, hinterfragt nichts mehr, vor allem nicht den Wahrheitsgehalt selbst abstrusester Aussagen. Drittens hat er mit seiner Lügenkultur die Gesellschaft nachhaltig geprägt. Über Bill Clinton beklagt man sich bis heute (und allen Ernstes), er habe mit seiner breitest und in allen Details abgehandelten Levinsky-Affäre bestimmte Sexualpraktiken selbst Teenagern zugänglich und dadurch gesellschaftlich akzeptabel gemacht. Was hat dann Donald Trump im Vergleich dazu vorgelebt?
Auf der persönlichen, charakterlichen und moralisch-ethischen Ebene war Trumps Amtszeit so ziemlich das Schlimmste, was man je von einem amerikanischen Präsidenten gesehen hat. Seine Person wird zwar im Januar in den Hintergrund treten müssen, aber seine Persönlichkeit wird es nicht. Vier Jahre unter Joe Biden werden nicht reichen, alle Scherben zusammenzukehren. Erst recht nicht, sollte der Senat republikanisch bleiben.
2024? Wer weiss, wer dann (wieder) kandidieren wird.
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